Die Herausforderung der Verführung
Die Malerei von Jean-Marie Blanchet zeugt von einer eigenständigen Handschrift. Sie ist eine Malerei der Abweichungen, mit der der Künstler distanziert Position gegenüber den Prinzipien der Moderne einnimmt, ohne diese zu verwerfen. Genauso wenig distanzlos übernimmt er aktuelle künstlerische Rückgriffe und Divergenzen.
Bei Blanchet erscheint die Malerei emanzipiert von ihren Grundlagen, doch bleibt sie zeitweilig auch überraschend nah bei ihrer Geschichte, ihren Grundsätzen und Brüchen. Dies impliziert Blanchet auf einer handwerklichen Ebene durch den Einsatz von Gebrauchsmaterialien (Farben, Leim, Sperrholz, Gips), das heißt durch ein technisches Vorgehen auf der einen und durch abstrakte, dekorative und funktionelle Elemente auf der anderen Seite.
Abweichung heißt hierbei nicht Begrenzung oder Abgehobenheit. Der Künstler hinterlässt nie den Eindruck, in eine beruhigende Oberflächlichkeit kippen oder durch Gefälligkeiten korrumpieren zu wollen. Hinter Abweichung steckt die zwingende Forderung nach der Öffnung hin zu neuen Spähren, die es zu befragen, zu erweitern und zu erfinden gilt. Die Malerei soll offen gelegt bleiben, in ihr soll die Arbeit, durch die sie entstanden ist, wiederzufinden sein, und sie soll aufklären, indem ihre grundlegenden Mechanismen, denen sie unterliegt und durch die sie funktioniert, demontiert werden.
Blanchets Malerei funktioniert in Serien. Jede Serie bringt bestimmte Handgriffe und Motive mit sich, integriert gewisse Unterschiede und Dimensionen, die sich dann verändert in allen Serien wiederfinden. Diese Verbindung schafft eine Dynamik im System, ermöglicht die kontinuierliche Variation und lässt das Phänomen der seriellen Aneinanderreihung außergewöhnlich schöpferisch erscheinen.
Denn die Serien unterliegen bestimmten Spielregeln, ohne die die Gemälde nicht zustande kämen. Das Spiel besteht darin, die Malerei mit ihren Grundlagen und Grenzen zu konfrontieren und diese dann von Grund auf neu zu definieren und zu strukturieren oder sogar aufzuheben. Regeln erfassen und belegen Erfahrungen. Sie konkretisieren sich durch die Auswahl von Materialien und Farben sowie durch ihren wiederholten Einsatz, und sie bestimmen den Spielrahmen. Das Spiel hat nichts Mechanisches an sich, sondern verwandelt sich in eine Art Energie, die neue Möglichkeiten eröffnet und räumliche und förmliche Veränderungen bewirkt. Die Malerei ist somit Verankerung und Bewegung zugleich - es ist die Abhängigkeit beider Elemente, die sie ausmacht.
Jean-Marie Blanchets Malerei möchte verführen. Es wäre uninteressant, wenn es allein darum ginge, Aufmerksamkeit zu erzielen. Es geht um etwas ganz Anderes: Verführen bedeutet hier vielmehr, über die Malerei hinauszuwachsen und ihre Grenzen zu sprengen, und zwar nicht durch Tricks, gerissene Kunstgriffe oder durch eine suggestive Theatralität und nutzlose Ornamentik, nur, um kurzweilig Aufsehen zu erregen, sondern durch den ständigen Appell an die Empfindsamkeit und das Hervorrufen von Inkongruenz, Spannung und Beunruhigung, in ständiger Erwartung des Neuen, Ungewöhnlichen und Ungleichgewichtigen. Die Malerei soll als eine wahrgenommen werden, die noch Widerstände und Durchgänge zulässt, die das Räderwerk der praktischen Lösungen und den Bereich der gewöhnlichen Erfahrungen mit festgefahrenen Regeln verlässt und das Erlebnis vor dem Kunstwerk als eine Art Seitensprung erfahrbar macht, indem das Spiel neu gespielt wird, die Regeln neu erfunden werden, Alternativen geboten und neue Wege gegangen werden. Das ist sie, die Herausforderung der Verführung.
Didier Arnaudet
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